Kurzgeschichte des Monats

 

Vorlesen

(von Roswitha Koert)

 

„Mama, liest du mir was vor?“

Ich habe mir den kleinen Hocker geangelt und versuche, das große bunte Buch aus dem Regal zu ziehen.

„Pass auf, dass du da nicht runterkippst.“ Mama blickt nicht von ihrem Handy auf. Sie weiß auch nicht, wie gut ich klettern kann.

Ich laufe mit dem Buch zu ihr und quengle noch mal.

„Lies mir aus dem Buch vor!“

„Ja, gleich, mein Schatz. Ich muss nur kurz was checken.“

„Was ist schecken?“

„Nachsehen.“

„Warum sagst du das dann nicht?“

Mama schaut endlich auf das Buch. „Von wem hast du das?“

„Von deiner Freundin Anja. Hat sie mir doch zum Geburtstag geschenkt.“

„Ach ja“. Mama blickt auf den bunten Bauernhof vorn auf dem Buch.

Bestimmt fängt sie gleich an zu lesen.

„Ist aber schon älter, das Buch. Hat sie wohl auf dem Trödel gekauft.“

Das ist doch egal, Mama, jetzt lies doch endlich. Warum dreht sie das Buch jetzt um?

„Hat mal 19,90 gekostet. Hat sie aber bestimmt jetzt für 3 € bekommen.“

Das interessiert mich doch gar nicht. Fang doch an zu lesen!!

„Bliink!!“ Das Handy! Mama greift sofort danach.

„Ach Mona. Jetzt kann sie doch nicht kommen. So ein Mist.“

„Liest du jetzt, Mama?“

„Ja, sofort, Mäuschen. Ich muss nur Anja eben schreiben, dass Mona nicht kommt. Dann kann sie ja kommen. Die beiden sprechen doch nicht miteinander, weißt du?“

Nein, das weiß ich nicht. Will ich auch nicht wissen. Ich will, dass du mir etwas vorliest!!

Mamas Daumen flitzt über das Handy. Sie kann unheimlich schnell schreiben. Vorlesen kann sie nicht so gut, aber ich hör' es trotzdem gern. Vielleicht müsste sie mehr üben.

„Aber jetzt liest du erst.“

„Ja, mein Schatz, sofort.“

Jetzt, ja jetzt fängt sie bestimmt an.

„Di,da,di,da“. Das Handy gibt schon wieder Töne von sich. Mama grabscht danach.

„Die blöde Kuh, dann kommt sie eben nicht.“

„Wohin kommt sie nicht?“

„Zu meiner Putzpartie, die ist doch heute Abend.“

Putzpartie? Was ist das denn? Feiert man beim Putzen oder putzt man beim Feiern? Ich frage lieber nicht. Mama soll doch lesen!

Ich halte ihr das Buch wieder hin. Die erste Seite, Mama fang doch schon mal an.

„Ich hol mir schnell noch einen Kaffee aus der Küche.“

Mama nimmt das Handy mit. Sie lässt es nie allein liegen. Ob sie in der Küche schon wieder...

„So, mein Schatz, jetzt geht’s gleich los. Bis wohin hatten wir schon gelesen?“

„Noch gar nicht, Mama.“

„Bist du sicher? Ich mein, wir hätten schon mal in diesem Buch gelesen.“

„Fang von vorn an, Mama.“

„Okay, überredet.“

„Rrriing, rrriing“, das Handy klingelt richtig laut, wie ein Telefon. Man kann damit nämlich auch telefonieren. Es ist der Bofrost-Mann.

„Nein, ich brauche diese Woche nichts. Dankeschön, bis zum nächsten Mal.“

Das ging ja schnell. Jetzt kann sie endlich lesen.

Aber Mama schaut schon wieder auf's Handy. Und diesen Blick kenne ich. Oben links. Uhrzeit. Mama stößt einen Schrei aus.

„Es ist ja schon kurz vor vier. Wir müssen uns beeilen, du musst zur Ballettstunde!“

„Oh nein“, ich könnte heulen. „Du wolltest mir doch vorlesen.“

„Das wird jetzt zu knapp, Mäuschen.“

„Dann heute Abend, ja?“

„Das geht nicht, ich habe doch die Putzpartie. Aber Papa, der liest dir vor, wenn er nach Hause kommt.“

Ja, wenn ich dann noch wach bin!

Mama packt meine Ballettschuhe und den engen Sportanzug, in den ich immer so schlecht reinkomme, in die Tasche und hält mir meine Jacke hin.

„Mäuschen, beeil dich, wir sind spät dran.“

Sie verfrachtet mich in den Kindersitz, wirft ihre offene Tasche auf den Beifahrersitz und setzt das Auto zurück. Das Handy liegt griffbereit oben in der Tasche. Während Mama Gas gibt, ertönt schon wieder das „Bllink!“

Vielleicht hat sie es nicht gehört? Aber sie greift schon nach dem Handy, schaut nur ganz kurz drauf, denn natürlich weiß sie, dass sie das während der Fahrt nicht darf.

„Papa kommt später heute Abend.“

Na toll!